Offene Kirchentüren und ein offenes Ohr für Sorgen und Ängste

Pfarrer Robert Tanner_offene Kirche_offenes Ohr_882A5687 (Foto: Angelika Nido)

Seinen Ursprung nahm das Angebot «Offene Kirche mit Gesprächsmöglichkeit» der reformierten Kirche in der Coronazeit. Die Nachfrage nach zwischenmenschlichem Austausch, nach einem vertraulichen Gespräch ist seither ungebrochen.
Angelika Nido
Besonders in der Adventszeit, die für viele Menschen eine belastende Zeit ist, entspricht diese Form der Begegnung einem Bedürfnis. Pfarrer Robert Tanner nimmt sich jeweils am Dienstag-nachmittag Zeit für Menschen. die Reden oder einen Moment der Stille teilen möchten.

Die Tage sind kälter, kürzer und dunkler geworden.
Die Pflanzen haben ihre Blüten verloren und der dichte Nebel drückt einigen Menschen schwer aufs Gemüt. Gleichzeitig empfinden manche die weihnachtlichen Werbungen mit idealisierten Familienszenen unter dem Christbaum als schmerzhaft, vor allem, wenn sie selbst einsam sind, die Familie weit entfernt lebt oder durch Konflikte belastet ist. «Die Adventszeit ist nicht für alle eine fröhliche und unbeschwerte Zeit der Vorfreude auf Weihnachten», weiss Robert Tanner.
Doch es kann helfen und befreiend sein, sich die belastenden Gedanken von der Seele zu reden und seine Sorgen und Ängste in einem vertraulichen Gespräch zu teilen. Der Walliseller Pfarrer lädt deshalb alle Menschen, unabhängig von ihrem Alter, Herkunft oder Religion, dazu ein, ihn unkompliziert und ohne Voranmeldung jeweils am Dienstagnachmittag von 16 bis 18 Uhr in der reformierten Kirche zu treffen.

Ungebrochene Nachfrage
Das niederschwellige, kostenlose Angebot «Offene Kirche mit Gesprächsmöglichkeit» hat die reformierte Kirche Wallisellen während der Coronazeit ins Leben gerufen. Schon im Sommer zuvor, als Robert Tanner manchmal tagsüber alleine in der Kirche an der Orgel übte, sei es immer wieder einmal vorgekommen, dass die Kirchentüre aufging und sich jemand still und leise in die leeren Bänke setzte. «Mit einigen Personen bin ich so ins Gespräch gekommen und habe gemerkt, wie gut ihnen das Reden getan hat», sagt der Seelsorger. Gleichzeitig habe er sich an seinen Lehrpfarrer in Zürich-Affoltern erinnert, der regelmässig einmal in der Woche die Kirchentüren öffnete und Menschen zum Gespräch empfing. Also tat er dasselbe, als die COVID-Pandemie im Winter 2020 die zwischenmenschlichen Kontakte stark einschränkte: Er setzte sich jeden Dienstag von 16 bis 18 Uhr in die leere Kirche. Und Robert Tanner wurde überrascht: «Erst dachte ich mir, da kommt doch niemand. Doch das Angebot wurde von Anfang an rege genutzt.» Es blieb auch nach Corona bestehen, weil die Nachfrage nach einem persönlichen Austausch im geschützten Rahmen der Kirche nicht nachliess.

Unterschiedliche Menschen und Themen
«Manchmal kommen an einem Dienstag drei oder vier Personen in die Kirche, manchmal auch mehr», erzählt Robert Tanner. Dabei begegnet er Menschen mit vielfältigen Hintergründen, unterschiedlichen Religionen und auch solchen ohne Konfession. Sie kommen mit sehr unterschiedliche Anliegen zu ihm: Da gibt es Eltern mit Kindern, die einen nahen Angehörigen verloren haben, Teenager mit Liebeskummer, Menschen, die schwer krank sind oder in schwierigen Familienverhältnissen oder Jobsituationen stecken oder Personen, die mit finanziellen Sorgen, Suchtproblemen oder Einsamkeit zu kämpfen haben. Die einen möchten mit dem Pfarrer zusammen eine Kerze anzünden oder ein Gebet sprechen, andere suchen das persönliche Gespräch. Dabei begegnet Robert Tanner seinem Gegenüber stets auf Augenhöhe: «Ich höre in erster Linie zu, frage vielleicht einmal nach und nehme Anteil.» Da die Kirche ohnehin ein Ort der Emotionen ist, an dem gelacht und geweint wird, dürfen die Menschen auch in den Gesprächen ihre Gefühle zeigen, ohne sie verstecken zu müssen.

Vertraulichkeit ist garantiert
Der Pfarrer untersteht der Schweigepflicht, die absolute Vertraulichkeit der Gespräche ist also garantiert. Es wird weder etwas aufgeschrieben noch protokolliert. Oftmals kennt Robert Tanner nicht einmal den Namen seines Gegenübers und fragt auch nicht danach. Wer sich lieber schriftlich ausdrücken möchte, kann seine Bitten, Wünsche und Sorgen auch dem aufliegenden Gebets-anliegenbuch anvertrauen. Diese werden dann in den Gebeten und Andachten der Gemeinde berücksichtigt.
Bei Bedarf vermittelt Robert Tanner auch den Kontakt zu Beratungsstellen, sozialen Institutionen oder zu Fachstellen, die juristische Auskünfte erteilen. Durch seine Tätigkeit als Seelsorger, aber auch die beruflichen Hintergründe seines Bruders, der in einem Sozialamt arbeitet, und seiner Ehefrau, die Psychiaterin ist, hat Robert Tanner ein gutes Netzwerk, auf das er zurückgreifen kann.

Offene Kirche im Advent
Das Angebot «Offene Kirche mit Gesprächsmöglichkeit» besteht das ganze Jahr über jeden Dienstagnachmittag zwischen 16 und 18 Uhr – es sei denn, der Termin überschneidet sich mit einer anderen Veranstaltung in der Kirche oder Robert Tanner ist im Militär oder in den Ferien. In der Adventszeit ist der Pfarrer an den Dienstagen von 3. Dezember, 17. Dezember und 31. Dezember in der offenen Kirche und lädt dazu ein, diese für viele Menschen schwierige Zeit mit etwas mehr Zuversicht zu gestalten.
Bereitgestellt: 28.11.2024     Besuche: 34 Monat